Politische und ökonomische Bildung am Gymnasium
"Nie werde ich diese Wahl vergessen, niemals, weder die über 90 Prozent Wahlbeteiligung noch meine eigene innere Bewegung. Ich wusste: Diese meine Heimatstadt und dieses graue, gedemütigte Land, wir würden jetzt Europa sein. In jenem Moment war da neben der Freude ein sicheres Wissen in mir: Ich werde niemals, niemals eine Wahl versäumen." (Joachim Gauck, 18.03.2012)
Joachim Gauck erinnerte in seiner ersten Rede als Bundespräsident am 18. März 2012 vor der Bundesversammlung an jenen 18. März zweiundzwanzig Jahre zuvor, als Millionen Ostdeutsche durch eine freie Wahl von einstigen Untertanen zu Bürgern wurden. Das Privileg, Bürger zu sein und seine Repräsentanten wählen zu können, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Viele Dinge werden aber weniger geschätzt, wenn sie selbstverständlich geworden sind. Politikverdrossenheit und niedrige Wahlbeteiligung, die schrumpfende Bereitschaft junger Menschen, sich in Parteien zu engagieren, unreflektierte Vorurteile und generell eine grassierende Unwissenheit über politische Zusammenhänge sind für die Zukunft unserer Demokratie ein Problem.
Politische Bildung in der Schule ist deswegen eine nicht nur sinnvolle, sondern auch notwendige Angelegenheit. Freiheit und Demokratie können nur so lange Bestand haben, wie sie von mündigen Bürgern gelebt und gegen ihre Feinde verteidigt werden. Wählen zu gehen sollte für Demokraten deshalb aber nicht zur lästigen Pflicht – getrieben durch ein schlechtes Gewissen – werden, sondern zur Überzeugung. Unter anderem dafür, dass Bürger niemals eine Wahl versäumen, betreiben wir politische Bildung.
Zusätzlich hat in den letzten Jahren auch die ökonomische Bildung immer mehr an Bedeutung gewonnen. In Niedersachsen dient etwa die Hälfte des Curriculums unseres Faches dieser Zielsetzung, was sich auch in der Bezeichnung "Politik-Wirtschaft" niederschlägt. Das geschieht nicht ohne Grund. Ein großes Problem der Gegenwart ist die Unkenntnis vieler Menschen über marktwirtschaftliche Prinzipien und wirtschaftspolitische Entscheidungen. Obwohl jeder Bürger tagtäglich in irgendeiner Form – sei es als Konsument, als Anleger oder als Arbeitnehmer – wirtschaftlich tätig ist, weiß er erstaunlich wenig. Dabei ist wirtschaftliches Handeln das Fundament unseres gewachsenen Wohlstands. Ökonomische Bildung in der Schule zielt nicht zuletzt aber auch auf die Fähigkeit, wirtschaftliche Herausforderungen im eigenen Leben souverän bewältigen zu können.
Politik und Ökonomie stehen nicht unverbunden nebeneinander. Sie sind symbiotisch aufeinander bezogen. So wie politische Entscheidungen den Rahmen wirtschaftlicher Tätigkeit abstecken und sichern, ermöglicht eine gesunde Volkswirtschaft erst die Stabilität des politischen Gemeinwesens. Deshalb sind politische und ökonomische Bildung in einem gemeinsamen Fach integriert. Auf beide Sphären erstrecken sich auch die im Fach zu erwerbenden Kompetenzen: politisches Urteilsvermögen und Argumentationsfähigkeit, Orientierungswissen über Strukturen und Abläufe, aber auch - gerade am Gymnasium und zunehmend bis zum Abitur - die Fähigkeit mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Theorien und Methoden wirtschaftliche und politische Prozesse zu analysieren und kritisch zu reflektieren.
Neue Stundentafel in der Oberstufe
Das Fach Politik-Wirtschaft wird ab dem Jahrgang 8 angeboten und bis zum Jahrgang 10 zweistündig unterrichtet. Seit der Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums erhält die Berufsorientierung einen besonderen Stellenwert mit einer dritten Stunde im Jahrgang 11 (Einführungsphase). In der Qualifikationsphase wird das Fach fünfstündig (erhöhtes Anforderungsniveau, P3-Prüfungen) bzw. dreistündig (grundlegendes Anforderungsniveau, P4/P5-Prüfungen) unterrichtet. Politik-Wirtschaft kann auch als dreistündiger Ergänzungskurs für zwei aufeinander folgende Semester ohne Prüfung belegt werden. Der Kurs auf erhöhtem Anforderungsniveau unterscheidet sich von Kursen auf grundlegendem Anforderungsniveau durch die Vermittlung zusätzlicher Kompetenzen, stärkere inhaltliche Ausdifferenzierung und Vertiefung, Intensivierung des wissenschaftspropädeutischen Arbeitens und zusätzlichen Freiraum zur Meinungsbildung und Reflexion.
Im schulinternen Arbeitsplan sind alle Unterrichtsinhalte des Faches aufgeschlüsselt. Er richtet sich nach den Kerncurricula von 2015 (Mittelstufe) und 2018 (Oberstufe). Der Arbeitsplan enthält außerdem eine Übersicht über die Anzahl, Dauer und Gewichtung der schriftlichen Arbeiten, eine Liste der fachspezifischen Operatoren (neu für Abiturjahrgang 2021) sowie eine Übersicht über die eingesetzten Lehrbücher.
Kontroversität im Unterricht und Rolle des Lehrers
Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers bleiben. So lautet neben dem Indoktrinationsverbot einer der Grundsätze des Beutelsbacher Konsens', einer heute noch viel zitierten Vereinbarung unter Akteuren der Politischen Bildung aus dem Jahr 1976. Die Schüler wollen sich im unterrichtlichen Diskurs miteinander und gegeneinander positionieren. Politiklehrer treten dabei mit dem Anspruch des politisch neutralen Moderators auf, sind deswegen aber keine unpolitischen Pappkameraden ohne eine eigene Meinung. Der Politiklehrer kann und muss – zum Beispiel in politisch homogenen Lerngruppen – auch mit politischen Statements provozieren; er bietet manchmal eine wichtige Reibungsfläche.
Auch unter Politiklehrern werden unterschiedliche Ansichten darüber vertreten, wie politische und ökonomische Fragen am besten beantwortet werden sollten. Deshalb gibt es aber keinen grünen, schwarzen, roten oder gelben Politikunterricht. Der Unterricht wird auf Pluralität hin angelegt.
Studien- und Berufswahlorientierung
Die Fachgruppe Politik-Wirtschaft trägt neben dem Fachunterricht auch eine besondere (aber nicht alleinige) Verantwortung für die Studien- und Berufswahlorientierung der Schule. Wir ermöglichen gemeinsam mit externen Partnern wie der Agentur für Arbeit eine Reihe von Angeboten in diesem Bereich. Neben der monatlichen Berufsberatung in der Schule, Hochschulinformationstagen und Berufsmessen sind hier vor allem die zusätzliche Unterrichtsstunde im 11. Jahrgang und das zweiwöchige Betriebspraktikum zu nennen, das seit 2019 ebenfalls im 11. Jahrgang stattfindet und in eine bewertete Praktikumsreflexion als Klausurersatzleistung mündet. Näheres zur Berufsorientierung ist im Beratungskonzept der Schule zu finden.
Aktuelle bzw. laufende Projekte und Veranstaltungen
Das Fach Politik-Wirtschaft beteiligt sich seit 2012 am fachübergreifenden Energieprojekt (MINT-Fächer und Politik-Wirtschaft), das zuerst im Jahrgang 10 stattfand und seit dem Schuljahr 2018/2019 im Jahrgang 11 durchgeführt wird. Die Fachgruppe Politik-Wirtschaft ermöglicht außerdem regelmäßig die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern am Planspiel Börse der Sparkasse Nienburg, an den Juniorwahlen, die parallel zu Landtags-, Bundestags- und Europawahlen stattfinden, und an politisch relevanten Schülertagungen der Evangelischen Akademie Loccum.